Von Beruf bin ich Staatsbürger. Vielleicht sollte ich hier, an dieser Stelle nicht von einem Beruf im Sinne eines schnöden Broterwerbes sprechen, sondern eher von einer Berufung, oder, besser, von einer Lebensaufgabe. Meine überaus verantwortungsvolle Tätigkeit besteht darin, meinen Personalausweis, der übrigens Eigentum der Bundesrepublik Deutschland ist, ständig mit mir zu führen und auf Verlangen vorzuzeigen.

Ich bin Staatsbürger. Das genügt!
Oder: Ich habe einen Personalausweis, also bin ich.

...Ein Terrorist, von denen es zur Zeit viele gibt, läuft durch die Dunkelheit, mit umgehängter Maschinenpistole. Da er sehr erschöpft ist, kommt er nur langsam vorwärts. Ihm dicht auf den Fersen zwei Polizeibeamte, die einen defekten Streifenwagen schieben. Das Blaulicht des Wagens ist eingeschaltet, es wirft ein gespenstisches Licht auf die umliegenden Häuser. Die Sirene gibt keinen Ton von sich. Aus einer Seitenstraße wird ein zweiter, ebenfalls defekter Streifenwagen heran geschoben, der die Verfolgung aufnimmt. Alle verschwinden im Nebel...

...Wie an jeder anderen Straßenecke auch, so steht auch hier ein Polizeibeamter, der sich die Zeit damit vertreibt, die Zahlen- und Buchstabenkombinationen von den Nummernschildern parkender Autos in ein kleines Notizbuch einzutragen. Unaufgefordert zeige ich ihm meinen Personalausweis vor, denn ich halte es für meine staatsbürgerliche Pflicht, den Kontrollorganen der Bundesrepublik Deutschland jederzeit und freiwillig Auskunft über meine Identität zu geben. Leider ist der Polizist nicht sonderlich begeistert über mein Pflichtbewußtsein, er schüttelt den Kopf und geht weiter. Ein Dutzend umstehender Personen nimmt sich allerdings an meinem Verhalten ein Beispiel und legitimiert sich nun ebenfalls durch unaufgefordertes Vorzeigen des Personalausweises. Der Polizist wird nun aufgefordert, sich seinerseits auszuweisen...

(aus: Martin Becker: Der Staatsbürger 1993)